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ASI Motorshow in Varano - Motorrad-Geschichte vom Feinsten

Ein Beitrag von Thomas Kohler (FIVA-Direktor der Kulturkommission und Vorsitzender schweizerischer Oldtimerverband FSVA):

Wenn man vierzylindrig fauchend die stickige Röhre hinter sich hat - man war immerhin in der heimlichen Hoffnung losgefahren, der Pass wäre schon offen - wenn man also dieses fast unendlich lange Loch im Berg geschafft hat, ausgeworfen wird mit Blick ins Blau und Grün der Leventina, schon Italien ahnend, ist das meiste schon geschafft.

Etwas coda vor Chiasso, auch Milano Nord durchaus hektisch wie immer, aber man darf sich durchschlängeln, versuchen, das steife Schweizer Fahrergewissen durch italienischen Hüftschwung zu ersetzen. Bei Autogrill Pavesi zur Belohnung der gelungenen halben Umrundung Mailands einen ersten Espresso, den man im Norden so nie bekommt, dann dem Fluss Po entlang brummen, man ist in der Lombardei, wo sich die Landwirtschaft zu Gunsten riesiger Industriekomplexe langsam zurückzieht, die Autostrada immerhin ohne Plakate, das hat gebessert, auch der Belag besser, man spürt das im Fahrwerk, dessen vierzig Jahre alles melden, was nicht eben ist. Pavia, Piacenza, das tönt nach italienischer Geschichte, alles atmet Kultur, egal ob die Kunst der Trüffelzubereitung oder die Kunst des Motorradbaus, la Cultura wird in diesem Lande ernst genommen. Kultur ist in Italien immer ein Argument, egal wo, egal die Herkunft, egal das Alter, was zählt ist die Meisterschaft. Maestro kann man am Dirigentenpult, am Zeichenbrett oder in der Küche werden, dann ist man unsterblich geworden, la Cultura adelt jede und jeden. So unregierbar das Land zu sein droht, fast alle Italiener verneigen sich vor dem, was ihnen als Kultur am Herzen liegt.

Dem Po entlang, kurz vor Parma rechts weg, dem Fluss Taro entlang, man kommt in das Hügelland der westlichen Emilia Romagna, dem Kernland der klassischen italienischen Küche, behaupten die Bewohner, man denke an Parmicianokäse, Parmaschinken und dergleichen, ein Land der Vollmundigkeit, der Fruchtbarkeit, ein begehrtes Land. Davon zeugen die Burgen und Festungen auf den Hügeln und in den Städtchen, man musste aufpassen, immer wieder kamen Heere, die plündernd durchzogen, Goten, Barbaren, Schweizer Landsknechte, napoleonische Heere, die Deutsche Wehrmacht.

Das Dorf Varano de Melegaro schmiegt sich zwischen Fluss und Berg, bewacht aus den Schiessscharten der Burg. Auf der anderen Flussseite, hinter viel Grün, ist der Rennkurs, heute Pilgerort der Zentauren, denn der ASI - Automotoclub Storico Italiano - hat geladen zum Konzert der Zylinder, zum Orchester der Zweiräder, und die Eingeladenen kamen mit Allem, was sie zum klingen bringen wollten.

Aus ganz Europa rollten sie heran, 599 Motorräder können auf der Piste fahren, ausgestellt sind weit mehr, sie stehen vor den Wohnwagen und Vorzelten, überall Motorräder aller Grössen, aller Alter und Herkunft. Ehrwürdige Echte mit berühmtem Stammbaum, nicht ganz Echte von etwas unklarer, eher vermuteter Herkunft und Andere, denen man das Alter ansieht. Veteranen der Landstrassen, die schon unterwegs waren, als noch niemand von uns geboren war. Für den eher kulturell Geniessenden eine einzigartige Schau der Motorradgeschichte, die jedes Jahr ändert und erweitert wird. Hochadel des Motorradbaus, wie die rot-schwarze, vierzylindrige Gilera, die schon 1949 unter dem grossen Nello Pagani den „Bremer“, den Bremgartenwald-Rennkurs vor den Toren Berns umflog, die hier von Maestro Francesco Guglielminetti pilotiert einige Tage dem Motorrad-Altersheim entkommen konnte um das grosse Orchester zu ergänzen. Ein Magnesiummotorgehäuse in knappster Form, Kühlrippen überall, ebenfalls filigran verrippte Zylinder, die Rippen noch eingesägt, damit nichts klemmt bei den unglaublichen Tempi in den italienischen Rundstrecken im Sommer, dahinter angepfropft eine Batterie von vier Dell’Ortos mit ihren hellen Schnorcheln, bereit, dem Motor Lebenssaft einzusaugen. Eigentlich braucht so ein Instrument keine weiteren Dinge als einen pragmatischen Rahmen, einen flachen und sehr roten Tank, zwei unglaublich schön geflochtene Räder mit riesigen Bremstrommeln - freni al tamburo - man hört den Trommelwirbel, der zum ritterlichen Kampf auffordert und vier Megaphone, die wie Trommelschlegel anzeigen, wer da welche Musik macht.

Still und bescheiden unter einem Sonnendach vor sich hinruhend fand ich eine unscheinbare Moto-Guzzi, sie stand da wie ein uralter Herr, der seine ihm zunehmend fremd gewordene Umgebung distanziert betrachtet, unbemerkt vom geschäftigen Treiben. Beim näheren Hinsehen eine unglaubliche Überraschung: Rahmennummer M.. und Motornummer 7..., es ist eine echte „Norge“, die gefeierte erste Langtourenmaschine der noch jungen Moto-Guzzi-Fabrik in Mandello am Comersee. Der Name bekommen hat sie als Erinnerung an die Fahrt ans Nordkap, ohne Rahmenbruch und Nierenkoliken des Fahrers und Konstrukteurs dank der Federung, die erste vollgefederte Serienmaschine der Welt, die diesen Namen auch verdiente, 1928/29 nur in kleinster Serie gebaut, eine unglaubliche Kostbarkeit, zumal dieses Motorrad noch seinen ursprünglichen Lack hatte. Die sonst bekannten, restaurierten plusminus echten  „Norge“ sind Guzzirot lackiert, diese trägt aber „Rosso Amaranto“, das tiefe Dunkelrot der frühen Guzzis. Alles konnte ich in Ruhe mir ansehen, der Besitzer, der sie aus einem Nachlass kaufen konnte, fährt sie noch, er startete mir zum Vergnügen seine Schöne, die nach Guzziart schnüffelte und dann in den geruhsamen Rundlauf „Andante ma non troppo“ fiel, dem alten zauberhaften Lied der Landstrasse und der Schiene des Dampfzeitalters. Alles da, beste Zutaten von Bosch und Brampton, Abzeichen verflossener Fahrten, alles in Würde gealtert, aber immer wieder Freude spendend.


Moto-Guzzi "Norge"
Foto: Thomas Kohler

Zwei Sonnendächer weiter eine kleine, zierliche Maschine, offensichtlich um 1930 gebaut, über dem vorderen Rad eine Tafel mit den Namen „Simoncelli“ - eine Herausforderung für Historiker. Verbindungen zu Marco Simoncelli, den jungen Italiener, der am GP Malaysia vor zwei Jahren starb? Kaum, hergestellt hat diese Maschine die Mechanikerwerkstatt G.Simoncelli in Verona. Die Zutaten: Ein obengesteuerter JAP 175ccm-Motor aus London, Bosch-Lichtmagnetzünder und ein Burman-Getriebe von der Insel, der Rest ist Made in Verona. Die Maschine ist ein typisches Konfektionärsmotorrad der Goldenen Zeit des Motorrades, mit dem Zylinder leicht nach vorne eingehängt, Doppelportauspuff, nutzlos aber hübsch, der Besitzer, ein weisshaariger Dottore, Chirurg von Beruf, hat die Auspuffanlage so präzise wie ein Sulzergelenk nachbauen lassen, die mit ihrer Makellosigkeit das beeindruckende Bild dieses sorgfältig konservierten Zeitzeugen noch unterstreicht. Man kann sich den Stolz des Signore G.Simoncelli vorstellen, als diese Maschine vor vielleicht achtzig Jahren vor seinem Etablissement parkiert war in Verona, der Stadt der Musik.


Simoncelli-Schild
Foto: Thomas Kohler

Französische Motorräder sind für mich immer aufregend, weil sie eine ganz eigene Eleganz haben. Sie sind selten aggressiv maskulin, eher verspielt weiblich, und eine solche Maschine ist mir sofort auf meinem Rundgang ins Auge gestochen. Eine Monet & Goyon, Modell „Superculbuté“ von 1936, mit einem 350ccm-ohv-Motor, alles noch im ersten Lack, alles ovale und schwingende Formen, das Hinterrad gefedert, es war ein Aufpreis, aber Madame hat es sicher geschätzt auf den damaligen Routes nationales. Auch heute wird sie gefahren, Geschenk des Schwiegervaters an den Schwiegersohn - man wünschte sich das auch - und eine nächste Generation wird noch Freude haben daran. Monet & Goyon produzierten in Macon, im Burgund, man begann 1917 mit Invalidenfahrzeugen mit kleinen Zweitaktern nach den Grand Guerre, um die vielen Amputierten wieder ins Leben zurückzuholen, zehn Jahre später hatten die Maschinen Schweizer MAG-Motoren, in den dreissiger Jahren, es waren goldene Jahre für Frankreich, entwickelte sich das Werk zu einer der grössten Motorradfabriken des Landes. Nach dem Zweiten Weltkrieg motorisierte man noch einmal die kleinen Leute, bis Monet & Goyon 1959 im grossen Töffsterben unterging.


Der Tank einer Monet-Goyon
Foto: Thomas Kohler

Unsere schöne Superculbuté stammt also aus dem Höhepunkt der grossen Firma, damals hatten sie 15 Weltrekorde und die grossen Fahrer Monneret, genannt „Jojo la moto“ und Gaussorgues mischten an den Grand Prix mit, so auch am Grossen Preis der Schweiz, Klasse 350ccm, den sie unter dem Moto „Monet & Goyon lässt die französischen Farben im Ausland strahlen“ 1929 gewannen. In Monthléry bretterte man 24 Stunden mit einem Schnitt von 134 km/h um den Rundkurs, um die neue Hinterradfederung zu testen, unsere Maschine hat sie dann eingebaut bekommen. Sie war sicher der Stolz einer Familie, die sie drei Jahre später in einem Heuschober verstecken musste, damit sie nicht von der Wehrmacht geklaut wurde. Im Versteck konnte sie die Jahre trocken überstehen, man fuhr sie nicht mehr oft und so kam sie zum nächsten Besitzer, der so intelligent war, sie nur technisch zu restaurieren.

Aus der Zeit der vollverschalten Fahrzeuge ist uns eine Miller erhalten geblieben, gebaut 1939 bei Miller-Balsamo in Mailand, unter der Verschalung arbeitet ein deutscher JLO mit 200ccm-Zweitaktmotor mit Doppelportauspuff. Miller-Balsamo war eine bekannte Grösse in der Szene, sie bauten temperamentvolle Motorräder der Mittelklasse, die sportliche Details besassen, 1933 gewannen sie den GP Schweiz in der Klasse 175ccm.

Diese rote Kugel, die da vor mir stand war eine spezielles Modell, angelehnt an die amöben Karrosserien der Autobahnrenner, den Protagonisten der Geschwindigkeit, deren Höhepunkt die vollverschalte BMW des Deutschen Ernst Henne war, der auf der Frankfurter Autobahn am 28.November 1937 den absoluten Weltrekord mit 279,5 km/h knackte. Piero Taruffi hatte den Rekord mit der ebenfalls vollverkleideten Gilera Rondine einen Monat zuvor auf der Autostrada bei Brescia auf 274,18 km/h angehoben, man war in neue Dimensionen vorgestossen, hatte mit ungeheurem Aufwand eine Leistung vollbracht, die von den damaligen faschistischen Staaten sehr unterstützt wurde. Die Strömungsforschungen kamen in der Folge den Flugzeugbauern auch zugute, die sich damals für die ersten Schritte zur Beherrschung der Welt vorbereiteten. So ist diese kleine vollverschalte Italienerin mit den deutschen Herzen ein Zeitdokument geworden.


Gilera 500
Foto: Thomas Kohler

Währenddessen begannen die Schaufahrten im Motodromo, Rennläufe ohne Verlierer, die Musik der Motoren. Ohrstöpsel wurden nötig, man wollte ja noch am Abend das Concerto hören im Schloss, das der Bürgermeister den Gästen spendierte: Chöre aus den Opern von Giuseppe Verdi, gesungen von einem lokalen Chor, der sich inbrünstig ins Zeug legte, die Italiener hatten bei „Va, pensiero..“ Tränen in den Augen als sie mitsangen, später wurde dann ein vertitabler Viergänger getafelt, damit man die Energie wieder bekam für die nächsten Tage, denn man musste wieder zurück, aber über den Pass, der Lukmanier verhalf einem dann zum ersten Passerlebnis der Saison.