Logo

Der Rückspiegel: Mercedes-Benz Museum Inside Nr. 7/2020

  • Empfehlung der britischen Rennfahrerin und Autorin Dorothy Levitt schon im Jahr 1909
  • Weiterentwicklung für besseres Sehen und Gesehenwerden
  • Kameras und Bildschirme statt Rückspiegel 1996 im Forschungsfahrzeug F 200 Imagination
  • „33 Extras“: Exponate der Automobilkultur im Mercedes-Benz Museum

160 Fahrzeuge und insgesamt 1.500 Exponate präsentiert die vielfältige Dauerausstellung des Mercedes-Benz Museums. Ein besonderer Bestandteil sind die „33 Extras“: Sie lassen am Beispiel oft überraschender Details Mobilitätshistorie und Automobilkultur lebendig werden. Die Newsletter-Reihe Mercedes-Benz Museum Inside lenkt den Blick auf die „33 Extras“ und bringt ihre Geschichten auf den Punkt. In der heutigen Folge geht es um den Rückspiegel.

7/33: Der Rückspiegel

1 – Rücksicht: In der Frühzeit des Automobils gibt die britische Rennfahrerin, Journalistin und Autorin Dorothy Levitt ihren Leserinnen einen Rat: Autofahrerinnen sollten stets einen Handspiegel griffbereit mit an Bord haben, um ihn „ab und zu hochzuhalten und zu sehen, was hinter Dir ist“ („to occasionally hold up to see what is behind you“). Denn so lasse sich der Verkehr hinter dem eigenen Wagen auch während der Fahrt gut im Blick behalten und gleichzeitig das Fahrzeug sicher steuern. Der Handspiegel solle „recht groß sein, um wirklich Nutzen zu bringen und am besten einen Griff haben“ („should be fairly large to be really useful and it is better to have one with a handle“). Exakt so sieht der Handspiegel innerhalb der Exponatreihe „33 Extras“ des Mercedes-Benz Museums aus.

2 – Erfahrung: Der Tipp findet sich in Levitts Buch „The Woman and the Car: A Chatty Little Handbook for All Women Who Motor or Who Want to Motor“, das 1909 erscheint. Es ist ein Rat mit großem Praxisbezug. Denn die 1882 geborene Engländerin und Wegbereiterin für autofahrende Frauen ist da längst eine erfolgreiche Rennfahrerin. Im April 1903 nimmt sie als erste Frau in Großbritannien an einem Autorennen teil und erringt in den folgenden Jahren zahlreiche Renn- und Klassensiege in ganz Europa.

3 – Straße und Sport: Je dichter und schneller der Straßenverkehr wird, desto nützlicher ist ein Spiegel für den Blick zurück. Statt ihn nur ab und an in die Hand zu nehmen, ist ein fester Einbau sinnvoller. Anfang des 20. Jahrhunderts kommen zahlreiche Ideen auf, wie man einen Rückspiegel dauerhaft im oder am Automobil montieren kann. Als erster Rennfahrer, der im Wettbewerb einen fest eingebauten Rückspiegel einsetzt, wird der US-Amerikaner Ray Harroun genannt. Mithilfe des innovativen Details gewinnt er das erste 500-Meilen-Rennen von Indianapolis im Jahr 1911. Durch den Rückspiegel kann er als einziger Rennfahrer im Feld auf einen Beifahrer verzichten, der damals üblicherweise auch nach hinten Ausschau hält.

4 – Innen und außen: Der Rückspiegel setzt sich nach dem Ersten Weltkrieg durch. Dabei entstehen zwei verschiedene Varianten: der im Cockpit befestigte Innenspiegel sowie die seitlichen Außenspiegel. Die heutige Platzierung entwickelt sich erst mit der Zeit. So findet sich im 1954 präsentierten Mercedes-Benz 300 SL „Gullwing“ (W 198) der Innenspiegel nicht am oberen Rand der Windschutzscheibe, sondern er ist auf dem Armaturenbrett montiert – wie schon beim gleichnamigen Rennsportwagen (W 194) aus dem Jahr 1952. Und bei den „Heckflosse“-Oberklasselimousinen der Baureihen W 111/112 (1959 bis 1968) gibt es die Seitenspiegel sowohl auf den vorderen Kotflügeln als auch an den Türen.

5 – Gesehen werden: Die Außenspiegel verbessern zunächst einzig die Sicht des Fahrers. Längst dienen sie aber auch dem besseren Gesehenwerden: So haben 1998 bei der S-Klasse der Baureihe 220 in den Gehäusen der seitlichen Außenspiegel LED-Blinker Premiere. Die Leuchtdioden sind so angeordnet, dass sie sowohl nach vorne als auch zur Seite blinken.

6 – Regeln: Aufgrund seiner Sicherheit für den Straßenverkehr werden Vorschriften für den Rückspiegel aufgestellt. Schon seit 1925 sind in Deutschland Außenspiegel an der Fahrerseite für Lastwagen vorgeschrieben. Die Kombination aus Innen- und Seitenspiegel macht die deutsche Straßenverkehrszulassungsordnung für Personenwagen ab 1956 zur Bedingung, in Großbritannien ist sie ab 1978 vorgeschrieben. Doch längst ist ein zweiter Außenspiegel fester Bestandteil.

7 – Kamera statt Spiegel: Knifflig ist der Blick nach hinten beim Rückwärtseinparken eines Autos, denn der Winkel des Rückspiegels erlaubt keine detaillierte Sicht auf den Abstand des Fahrzeughecks zu eventuellen Hindernissen. Hier schaffen innovative Lösungen von Mercedes-Benz Abhilfe. Die PARKTRONIC misst die Distanz beim Einparken mit Ultraschall, sie wird 1995 vorgestellt und hat in der S-Klasse der Baureihe 140 Premiere. 2005 kommt schließlich die Rückfahrkamera in der S-Klasse der Baureihe 221 – ihr Bild wird direkt auf dem Bildschirm im Cockpit angezeigt. Das ist noch einfacher als der Griff zum Handspiegel von Dorothy Elisabeth Levitt. In den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada sind Rückfahrkameras seit 2018 für neue Personenwagen vorgeschrieben. Und in Japan wird bereits 2016 ein Gesetz erlassen, das auch während der Fahrt die Orientierung über Kamera und Bildschirm statt über den klassischen Rückspiegel erlaubt. Mercedes-Benz zeigt Kameralösungen für Innen- und Außenspiegel bereits 1996 im Forschungsfahrzeug F 200 Imagination. Im neuen Mercedes-Benz Actros hat 2019 als Serienlösung die MirrorCam Premiere. Erstmals in einem Truck lösen dabei serienmäßig Kameras und Bildschirme die klassischen Außenspiegel ab.

8 – Spieglein, Spieglein: Ein weiterer Spiegel im modernen Automobil verbirgt sich in der Sonnenblende vor dem Beifahrersitz: Er dient allerdings nicht der Orientierung im Straßenverkehr, sondern der dort sitzende Passagier kann sich darin selbst betrachten. Von diesem „ganz persönlichen Gebrauch“ („strictly personal use“) des Handspiegels rät Dorothy Levitt 1909 ihren Leserinnen allerdings während der Fahrt ab.