Logo

Fahrwerkgeschichte: Von der Einzelradfederung zum aktiven Fahrwerk

  • Kleine Fahrwerkgeschichte der Personenwagen von Mercedes-Benz
  • Ein starker Innovationsschub erfolgt in den 1930er Jahren
  • Die Elektronik revolutioniert die Fahrwerktechnik

Pferdekutschen prägen bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein das Straßenbild. Doch das Automobil, das Gottlieb Daimler und Carl Benz 1886 unabhängig voneinander erfinden, stellt im Vergleich dazu ganz neue Anforderungen insbesondere an das Fahrwerk: Es gilt die höheren Geschwindigkeiten zu meistern, ohne die Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Gottlieb Daimler und Carl Benz gehen hier unterschiedliche Wege. Während Benz sich bei seinem Patent-Motorwagen am Fahrrad orientiert und eine Steuerkopflenkung sowie Speichenräder verwendet, entsteht Daimlers Fahrzeug aus einer Kutsche, die mit einer Lenkvorrichtung versehen ist.


Wilhelm Maybach, der geniale Konstrukteur an Gottlieb Daimlers Seite, entwickelte 1889 den Stahlradwagen und damit ebenfalls, wie der Benz Patent-Motorwagen, ein vom Kutschenbau gelöstes Chassis.
Foto: Daimler AG

Die Evolution schreitet schnell voran. Wilhelm Maybach, der geniale Konstrukteur an Daimlers Seite, entwickelt 1889 den Stahlradwagen und damit ebenfalls ein vom Kutschenbau gelöstes Chassis. Große Entwicklungsschritte machen auch die Motoren, die immer leistungsfähiger werden. Dies führt dazu, dass die Automobile einerseits immer schneller werden, andererseits aber auch schwerer. Daraus ergeben sich wiederum neue Anforderungen an das Fahrwerk, denen die Konstrukteure mit immer aufwändigeren Lösungen begegnen. So halten beispielsweise Schraubenfedern nach und nach Einzug, etwa 1895 an der Hinterachse des Daimler Riemenwagens. Das Problem der Lenkung eines vierrädrigen Fahrzeugs löst allerdings nicht Gottlieb Daimler, sondern Carl Benz mit der so genannten Achsschenkellenkung. Diese neuartige Lenkung, die erstmals im Typ Victoria verwendet wird, meldet Benz 1893 zum Patent an.


Der Mercedes-Simplex kam 1901 auf dem Markt. Er hatte ein vollkommen neu entwickeltes Fahrwerk mit tiefliegendem Schwerpunkt.
Foto: Daimler AG

Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert löst der Kardanantrieb den Kettenantrieb endgültig ab. Im 1902 erscheinenden Benz Parsifal, das Gegenstück zum Mercedes-Simplex, ist der Kardanantrieb zu finden. Er erfordert eine Änderung der gesamten Hinterachskonstruktion: Das Achsgetriebe hat nun ein integriertes Differenzialgetriebe, was die ungefederten Massen vergrößert. Daraus resultiert ein erhöhter Dämpfungsbedarf der Hinterachse – Zusatzdämpfer werden eingebaut.

Innovationsschub in den 1930er Jahren

Ein großer Innovationsschub für die Fahrwerktechnik erfolgt in den 1930er Jahren, als die Straßen für den schnellen Autoverkehr bereits deutlich besser geeignet sind als im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Reifenpannen werden seltener und die Fahrwerke sind sicherer und komfortabler. Die so wichtige zusätzliche Vorderradbremse taucht bei Mercedes-Serienwagen erstmals 1921 auf – zunächst im leistungsstarken Typ 28/95 PS Sport. Von Sommer 1924 an werden alle Mercedes-Pkw mit Vierradbremse angeboten. Der Komfort der durchweg noch mit Starrachsen und Blattfedern ausgestatteten Personenwagen ist dank der Erfindung des Stoßdämpfers deutlich besser geworden, auch wenn er noch zu wünschen übrig lässt, vor allem bei kleineren und leichteren Fahrzeugen. Am Benz-Tropfenrennwagen von 1923 ist erstmals eine Pendelachse zu sehen.

Auf dem Pariser Salon 1931 steht der Mercedes-Benz 170 mit einem völlig neuartigen Schwingachs-Fahrwerk, das einen bedeutenden Meilenstein in Richtung Fahrkomfort und Fahrsicherheit setzt. Die vier einzeln aufgehängten Räder dieses Wagens hängen vorne achslos an einem quer liegenden Blattfederpaar, hinten an je einer Halbpendelachse, deren Hüllrohre sich über je zwei Schraubenfedern auf der Radseite gegen den Rahmen abstützen und am Differenzial zapfengelagert sind. Das Ergebnis ist ein stark reduzierter Anteil ungefederter Massen.


Auf dem Pariser Automobilsalon 1931 steht der Mercedes-Benz 170 mit einem völlig neuartigen Schwingachs-Fahrwerk.
Foto: Daimler AG

Die Einzelrad-Federung, seit ihrer Einführung im Typ 170 Maxime für alle weiteren Mercedes-Benz Personenwagen, bringt der Marke den Ruf ein, außergewöhnlich komfortable und sichere Fahrzeuge zu bauen. 1933 folgt der Achtzylinder-Kompressor-Sportwagen Typ 380 und damit ein weiterer Vollschwingachser, dessen Vorderräder erstmals an Parallelogramm-Querlenkern mit Schraubenfedern aufgehängt sind. Diese richtungweisende Konstruktion, bei der Radführung, Federung und Dämpfung getrennt erfolgen, wird zur Standard-Vorderradaufhängung – nicht nur bei Mercedes-Benz, sondern bei zahlreichen Herstellern weltweit.

Die Eingelenk-Pendelachse setzt neue Maßstäbe

Nach etlichen Verfeinerungen wird aus der Zweigelenk-Pendelachse, wie sie 1931 im Typ 170 eingeführt worden ist, 1954 die Eingelenk-Pendelachse, die bei Mercedes-Benz bis 1972 Bestand hat. Auch sie hat Schubstreben und Schraubenfedern, in stärkeren Modellen zusätzlich eine waagerecht liegende Ausgleichs-Schraubenfeder. Eine neue Dimension des Fahrkomforts eröffnet eine 1961 präsentierte und zunächst im Mercedes-Benz 300 SE erhältliche Variante, bei der Luftkammer-Federbälge die Schraubenfedern ersetzen; gleichzeitig hält eine hydropneumatische Niveauregulierung an der Hinterachse Einzug. Schon zuvor, 1951 im Mercedes-Benz 300, hatte es eine Niveauregulierung gegeben, die über eine elektrisch zuschaltbare Drehstabfeder funktioniert. Der Mercedes-Benz 600 hat dann sogar Stoßdämpfer, die vom Fahrzeuginnenraum in ihrer Charakteristik einstellbar sind.


Eine neue Dimension des Fahrkomforts eröffnete der 1961 präsentierte Mercedes-Benz 300 SE, bei dem Luftkammer-Federbälge die Schraubenfedern ersetzen.
Foto: Daimler AG

Ein nächster bedeutsamer Schritt ist 1968 die in den Baureihen 114/115 eingeführte Diagonal-Pendelachse. Dahinter verbirgt sich eine Schräglenkerachse, die sich ebenfalls auf Schraubenfedern abstützt und beim Ein- und Ausfedern weitgehend spur- und vor allem sturzkonstant bleibt.

Ende 1982 wird der Mercedes-Benz 190 der Kompaktklasse-Baureihe W 201 vorgestellt. Er ist der direkte Vorläufer der C-Klasse. Besonders sein Fahrwerk mit der beispiellosen Raumlenker-Hinterachse ist eine technische Sensation. Die optimale Bewegung der einzeln aufgehängten Hinterräder wird erreicht durch die Verteilung der Kräfte und Momente auf je fünf im Raum angeordnete Lenker, die für ihre Aufgabe jeweils geometrisch spezialisiert sind. Komfort und Straßenlage befinden sich unabhängig voneinander in Bestform. Unterstützt wird dies durch die ebenfalls neu konstruierte Vorderradaufhängung an Querlenkern mit Dämpferbeinen und getrennt platzierten Schraubenfedern. Die Raumlenker-Hinterachse findet Zug um Zug Eingang in die anderen Mercedes-Benz Modelle.

Die Elektronik revolutioniert die Fahrwerktechnik

In den 1980er Jahren hält die Elektronik auch Einzug in die Fahrwerktechnik. Der Mercedes-Benz SL der Baureihe R 129 ist das erste Serienfahrzeug der Marke, für den eine in mehreren Stufen justierbare elektronische Dämpferverstellung erhältlich ist. 1998 tritt die S-Klasse der Baureihe W 220 auf den Plan. Sie bietet anstelle des klassischen Federungs- und Dämpfungssystems mit Schraubenfedern und Gasdruck-Dämpfern das neu entwickelte, elektronisch geregelte Dämpfungs-System AIRMATIC, bei dem die Luftfederung und das adaptive Dämpfungssystem ADS eine Einheit bilden. Die automatische, für jedes Rad individuell arbeitende Niveauregulierung ist Teil der AIRMATIC.

Das Ergebnis der in etlichen Details weiterentwickelten und von Aluminium-Bauteilen geprägten Raumlenkerachse ist ein großer Schritt in Richtung einer Verbesserung von Straßenlage, Fahrkomfort und Fahrsicherheit. Auch die Vorderachse ist neu. Hier löst ein Vierlenker-System aus Aluminium und Stahl die Doppelquerlenker-Technik ab. Vier Bauteile prägen ihren Namen: Federlenker aus Stahl quer zur Fahrtrichtung tragen die Federbeine der Vorderachse. Die schräg nach vorne gerichteten Zugstreben optimieren die Führung der Vorderräder. Obere Dreieckslenker dienen wie bei der klassischen Achse der Radführung. Spurstangen verbinden das quer liegende Lenkgetriebe der Zahnstangenlenkung mit den Vorderrädern.


1998 tritt die S-Klasse der Baureihe W 220 auf den Plan. Sie bietet anstelle des klassischen Federungs- und Dämpfungssystems mit Schraubenfedern und Gasdruck-Dämpfern das neu entwickelte, elektronisch geregelte Dämpfungs-System AIRMATIC.
Foto: Daimler AG

Als revolutionär gilt das Elektronische Stabilitäts-Programm ESP®, das Mercedes-Benz 1995 in einem S-Klasse Coupé der Baureihe 140 vorstellt. Im S 600 Coupé gehört es zur Serienausstattung. Andere Modelle erhalten das Fahrsicherheitssystem zunächst als Sonderausstattung, doch schon von 1999 an gehört ESP® bei allen Mercedes-Benz Personenwagen zur Serienausstattung. ESP® erkennt instabile Fahrzustände bereits im Ansatz und wirkt ihnen über gezielte Bremseingriffe entgegen.

Dynamik und Fahrspaß – mit dieser Botschaft markiert 1999 das große Mercedes-Benz Coupé CL 500/CL 600 die Spitze nicht nur des deutschen Automobilbaus. Die zukunftsweisende Technik des Coupés macht Autofahren zu einem neuen Erlebnis, geprägt vor allem durch das weltweit erste aktiv geregelte Federungssystem Active Body Control ABC, das als herausragender Meilenstein auf dem Gebiet der Fahrdynamik und des Fahrkomforts gilt. Im System arbeiten hydraulisch geregelte Stellzylinder in den Federbeinen mit den passiven Stoßdämpfern und Schraubenfedern zusammen. Die aktiv regelbaren Elemente verringern Aufbauschwingungen bis zu 5 Hertz, die sich beispielsweise auf unebenen Fahrbahnen durch Hub- und Wankbewegungen, bei Kurvenfahrt durch starke Seitenneigung oder beim Bremsen durch Nicken der Karosserie bemerkbar machen. Für die mit 6 bis 20 Hertz höherfrequenten Schwingungen der Räder sind auch beim Mercedes-Benz CL passive Gasdruck-Stoßdämpfer und Schraubenfedern zuständig, deren Dämpfkräfte jedoch geringer sind als bei konventionellen Fahrwerken. Das wirkt sich positiv auf den Schwingungs- und Abrollkomfort aus. Drehstab-Stabilisatoren entfallen dank der aktiven Wankstabilisierung.

Die S-Klasse der Baureihe W 221, im Jahr 2005 vorgestellt, hat eine weiterentwickelte Luftfederung AIRMATIC, die mit dem Adaptiven Dämpfungs-System ADS kombiniert ist, das die Stoßdämpferkraft stets bedarfsgerecht regelt und dabei Fahrbahnzustand, Fahrweise und Beladung berücksichtigt. Innerhalb von nur 50 Millisekunden passt das System die Dämpfkraft für jedes einzelne Rad der jeweiligen Situation an. Die Active Body Control ABC wurde perfektioniert. So verringern sich die Karosseriebewegungen bei dynamischen Fahrmanövern gegenüber dem Vorgängermodell um mehr als 60 Prozent. Damit stößt die S-Klasse bei höchstem Komfort in neue Dimensionen der Fahrdynamik vor.

Einen Maßstab der Fahrwerktechnik setzt im Jahr 2007 auch die C-Klasse der Baureihe 204: Mit Hilfe des ADVANCED AGILITY-Pakets lässt sich die Abstimmung der Stoßdämpfer auf Knopfdruck ändern – und gleichzeitig die Schaltcharakteristik des Getriebes. Das außerdem erhältliche AGILITY CONTROL-Paket ist ein selektives Dämpfungssystem, das die Stoßdämpferkräfte, die Lenkung und die Gangschaltung je nach Fahrsituation anpasst.

Das Fahrwerk der Zukunft im F 700

Ein Blick in die Zukunft ist das Forschungsfahrzeug Mercedes-Benz F 700, das auf der IAA 2007 gezeigt wird. Dank seines aktiven PRE-SCAN-Fahrwerks reagiert das Fahrzeug nicht nur höchst sensibel auf Unebenheiten in der Fahrbahn, es agiert vielmehr schon vorausschauend. Das dient dem Komfort und der Fahrsicherheit gleichermaßen. Als „Augen“ nutzt PRE-SCAN zwei Laser-Sensoren in den Frontscheinwerfereinheiten. Sie liefern ein präzises Bild von der Beschaffenheit der Fahrbahn. Aus dem Bild der Laser-Sensoren und aus den Informationen über den Fahrzustand errechnet das Steuergerät jeweils die Strategie zur Überwindung eines Hindernisses. Somit kann das Fahrzeug schon im Vorfeld und individuell für jedes einzelne Rad die Dämpfung der Active Body Control straffer oder weicher stellen und über die aktive Hydraulik das Rad be- oder entlasten. Das Fahrwerk wird innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die jeweilige Situation eingestellt. Die Folge ist ein Fahrkomfort, wie es ihn bisher nicht gab, verbunden mit maximaler Fahrsicherheit.


Forschungsfahrzeug F 700: Bei seiner Premiere im Jahr 2007 wurde es aufgrund seines vorausschauenden PRE-SCAN-Fahrwerks gern als „fliegender Teppich“ bezeichnet.
Foto: Daimler AG

Die E-Klasse der Baureihe 212, die 2009 debütiert, setzt neue Standards beim Langstreckenkomfort in dieser Fahrzeugklasse. Zur Serienausstattung gehört ein weiterentwickeltes Fahrwerk mit adaptivem Stoßdämpfersystem. Es passt sich automatisch der jeweiligen Fahrsituation an, indem es die Dämpferkräfte bei normaler Fahrweise vermindert und so den Abrollkomfort spürbar verbessert. Bei dynamischer Kurvenfahrt oder bei schnellen Ausweichmanövern stellt das System die maximale Dämpfkraft ein, um die Limousine bestmöglich zu stabilisieren. Lieferbar sind zudem eine Fahrwerkvariante mit dynamischer Dämpfercharakteristik und tiefer gelegter Karosserie sowie eine Luftfederung; diese ist erstmals mit einem stufenlosen, elektronisch gesteuerten Dämpfungssystem kombiniert, das verschiedene Sensorsignale verarbeitet und jedes Rad einzeln regelt.

2009 präsentiert Mercedes-Benz eine neue Generation der S-Klasse. Sie erfüllt höchste Ansprüche in punkto Fahrdynamik und Agilität. Dazu tragen die Direktlenkung mit einer je nach Lenkwinkel variablen Übersetzung und die modifizierte Active Body Control ABC mit Seitenwindstabilisierung bei. Dazu wird die Radlastverteilung mittels der ABC-Federbeine je nach Richtung und Intensität des auf das Fahrzeug wirkenden Seitenwinds derart variiert, dass sich der Windeinfluss weitgehend ausgleichen lässt. Das ABC bedient sich hierzu der Gierraten- und Querbeschleunigungs-Sensoren des Elektronischen Stabilitäts-Programm ESP®. Für zusätzliche Sicherheit sorgt die Torque Vectoring Brake – ein gezielter einseitiger Bremseingriff am kurveninneren Hinterrad. Der Effekt ist eine definierte Drehbewegung des Fahrzeugs um die Hochachse, sodass die Limousine ohne Einbußen bei der Dynamik einlenkt.

Das Forschungsfahrzeug Mercedes-Benz F 700 wurde bei seiner Premiere im Jahr 2007 aufgrund seines ausgeklügelten, sicheren und komfortablen Fahrwerks in der Fachpresse gern als „fliegender Teppich“ bezeichnet. Sicherlich sind einige seiner Merkmale noch Zukunftsmusik. Doch an den „fliegenden Teppich“ kommen die Serienfahrzeuge von Mercedes-Benz schon heran – mit jeder neuen Baureihe ein Stück mehr.